Nach mehr als drei Dekaden verabschiedet sich die „Lindenstraße“ von den Fernsehbildschirmen. Micky Beisenherz blickt zurück auf 35 Jahre „Kult!“ und schöne Stunden spektakulärer Normalität.Es scheint nur folgerichtig, dass in einer Zeit, in der alle Gewissheiten dahin sind, auch eine weitere Institution dahin geht. Die vielleicht letzte Straße Deutschlands, auf der eine ausgelassene Gruppe Menschen dicht gedrängt die Frühlingssonne genießt, ist ab sofort Geschichte.Nach mehr als drei Dekaden.Diese Show ist Tschernobyl-Hoyerswerda-NineEleven-Oderflut-Fukushima-AfD-Jahre alt. Eine Fernsehsendung, die damit begann, dass Familie Beimer – eine Art deutscher Eichenschrankwand-Gegenentwurf zu den Ewings – sich mit Hausmusik selbst die Einlaufmusik in deutsche Wohnzimmer einspielten.Geradezu visionär, konnte man vor 35 Jahren nun wirklich nicht ahnen, dass im März 2020 Familien plötzlich gezwungen sein würden, auf 80 qm Pressspanhölle zusammengepfercht so zu tun, als würde man sich nicht gleich mit dem Monopoly-Brett erschlagen wollen. kurzbio beisenherzWas hätten die Macher aus der Corona-Krise nicht alles machen können!Wenn man der Lindenstraße stets etwas attestiert hatte, dann die Aktualität. Über Jahre hinweg setzte das Team um das Fischermützen-Mastermind Geissendörfer Themen. Angelegenheiten, die viele in der alten BRD nicht mal mit spitzen Fingern anfassen mochten, wurden dem völlig unvorbereiteten Fernsehzuschauer förmlich ins Gesicht gedrückt. Schwule Küsse, HIV, Selbstmord – der dann nicht einmal einer ist. Der bis dato durch Wim Thoelke nahezu völlig sedierte Deutsche musste nun regelmäßig um 18.40 Uhr eine ganze Menge Realität schlucken.Klar, vom Tatort war man ja schon einiges gewohnt (wie Quadflieg mit feuchtwarmen Oberstudienratsgriffeln an der blutjungen Nastassia Kinski herumfummelte war ja auch gerade mal acht Jahre her), aber doch nicht in einer heiteren Familiensendung! Weder die Wicherts, noch die Schumanns hätten sich je dazu hinreißen lassen, jemanden umzubringen oder schlimmer: sich scheiden zu lassen!Mei, was hätten die Macher allein aus der aktuellen Corona-Krise nicht alles noch machen können. Dr. Dressler, in dessen operettenhaftes „Na, was hat Monsieur Gung uns denn heute wieder Tolles zu essen gezaubert?“ sich eine Spur rassistischen Ressentiments hineinmengt beim Anblick seines verschnupft wirkenden asiatischen Dieners. Ob unter der Cloche wohl Fledermaussuppe wartet…? Vasily Sarikais, der aus seinem geschlossenen Akropolis heraus plötzlich anfängt, Klavierkonzerte live via Twitter zu streamen. So feiert die „Lindenstraße Abschied 18-00Mutter Beimer würde zur Beruhigung Spiegeleier bratenEine Umstellung für den Gastronomen, in dessen Restaurant jahrelang schlichtweg ALLE Feiern ALLER Serienfiguren inklusive Silvester, Bar Mitzwa oder Geburtstag inklusive anschließendem, spontanen Vatermord gefeiert wurden.Zu einer ausgelassenen Corona- Party sollte es nicht mehr kommen. Ein spontaner Huster von Klausi Beimer zur falschen Zeit und rund ums Café Bayer würde das Flatterband gezogen.Inmitten dieses Wahnsinns würde Mutter Beimer zur Beruhigung Spiegeleier braten, während man beim Reinigen des Terrazzo-Treppenhauses die öffentlichen-rechtliche Belehrungsmission erfüllt und das Tagesgeschehen bespricht: „Also, dieser Trump, das ist ja auch wirklich ein seltsamer Typ, was?“Diese Momente bildungsbürgerlichen Mitteilungsbedürfnisses waren traditionell immer die schwächsten in der Show. Man spürte stets, wie der Redakteur mit dem Kölner Stadtanzeiger wedelnd in der Hand im Büro der Drehbuchautoren gestanden haben muss und befahl, die heiße News über Klaus Töpfer im Rhein badend umgehend mit einzubauen. Das wurde dann immer mehr schlecht als recht in das Skript hinein geflanscht und wirkte so elegant wie ein VW Jetta mit Heckspoiler.Was würde Olaf Kling heute von Höcke schwärmen! mutter-beimer-zukunft 1730Spektakuläre Tode in der LindenstraßeDie Dramatiker wehrten sich mit ihren eigenen Mitteln und ließen ihren Frust an den bedauernswerten Figuren jenseits des Türspions aus. Dem lüsternen Tennislehrer wird erst mit einem Luftgewehr von einem Kind das Augenlicht ausgeschossen, nur, um wenig später fröhlich pfeifend vor ein Auto zu laufen.Die engagierte Tierschützerin befreit eine Katze aus dem Versuchslabor – und wird durch einen Biss der tollwütigen Webastocat in den Peta-Himmel befördert. Und Hausmeister Egon Kling, der einzig Normale in dem Viertel, lässt sich während der WM 1998 von einem Mofa(!) umnieten und stirbt. Während Anna Ziegler gefühlt alle paar Jahre irgendjemanden in den Tod schubst.Besonders übel erwischt es Pfarrer Matthias Steinbrück, der erst mit einer Bratpfanne niedergestreckt und dann auf die Gleise gelegt wird, um einen Selbstmord vorzutäuschen. Mitten im Geschehen: Willi Herren alias Olli Klatt, der mit der 13-jährigen Lisa hier ein Duo mit erhöhter HändeüberdemKopfschlag-Intensität bildet. Eine Teamleistung, die dem realen Herren erst Jahrzehnte später wieder mit der eigenen Gattin im Sommerhaus der Stars gelingen soll.Die Lindenstraße war lange Jahre das, was man gemeinhin als „Kult!“ bezeichnetFast gratulieren möchte man eingedenk der mitunter doch sehr unfreiwilligen Abschiede (Hallo, Bill Mockridge!) Hans Joachim Luger, dem als Hans Beimer ein feierlicher – und vor allem selbst gewählter – Ausstieg aus der Serie beschieden war. Inmitten der beiden Frauen seines Lebens, untermalt vom WDR-Funkhausorchester. Ein dramatisches Ende, inszeniert wenige Monate, bevor das komplette Aus der Serie beschlossen und verkündet wurde. Ein Timing, das man besser nicht hätte wählen können. Wie ein Fallschirmsprung aus der Hindenburg.Man kann nur mutmaßen, wie viele der Darsteller danach im Produzentenbüro standen, um ihrerseits einen eigenen scorceseesken Exitus gewährt zu bekommen. Da halfen vermutlich nicht einmal Spiegeleier zur Beruhigung der Mimenseele.Die Lindenstraße war lange Jahre das, was man gemeinhin als „Kult!“ bezeichnet. Es gibt sogar Podcasts, in denen der passionierte Lindi-Ultra Nilz Bokelberg seine Frau dazu zwingt, sich alte Folgen mit ihm anzusehen und zu besprechen. Man ist beim Hören stets kurz davor, beim Amt anzurufen, um die bedauernswerte Maria aus dieser „Misery“-artigen Beziehung zu befreien. PAID die 5 besten Comedy-SerienDie Lindenstraße ist wie die lieb gewonnene kleine Buchhandlung um die EckeWenn ich an das Ende der Lindenstraße denke, erinnere ich mich mit sentimentalen Gefühlen an die Figuren, die dem kölschesten aller Münchener Viertel Leben einhauchten: Benny Beimer, Flurwochen-Mephisto Robert Engel, Berta Griese, Jack, Andy Zenker, die ewig zeternde Elena „Beate, mein Sohn bleibt Grieche“ Sarikakis, der flanellhemdsärmelige Erich Schiller, Zorro, Walze und die Jessica Rabbit für Beitragszahler, Isolde Pavarotti.Ich werde sie alle mit einem wissenden Lächeln im Gedächtnis behalten und daran denken, was die Lindenstraße uns alles noch hätte geben können – außer ein wenig Struktur am Sonntag. Wenn ich ehrlich bin, so stelle ich beim Schreiben dieser Zeilen fest, dass meine Erinnerungen an die Highlights nicht mehr die frischesten sind.Vielleicht ist die Lindenstraße die lieb gewonnene kleine Buchhandlung um die Ecke, die man so gerne im Stadtbild hat – bei der man aber auch seit über 20 Jahren nicht einkaufen war. Oder mehr noch: Der Opa, dessen Geschichten in der Erinnerung immer besser und spektakulärer werden, wenngleich man, wenn man ehrlich ist, für das Gemurmel zuletzt kaum noch ein offenes Ohr hatte.Wenn die bayerischste Straße von Köln-Bocklemünd am heutigen Sonntag endgültig zum verkehrsberuhigten Bereich wird, dann werde ich dabei sein und wie weiland die Scheuermilch-Kobra Else Kling vor dem Röhrenfernseher sitzen, um „meine Serie“ zu gucken.Es ist schade um diese Institution, seine Figuren und auch das Ensemble, das sicherlich gerne in für Schauspieler sicherere Zeiten entlassen worden wäre.Aber, um Gung Pham Kien zu zitieren: „Konfuze sagt: Lebbe geht weiter.“Nur jetzt halt woanders.Mach es gut, liebe Lindenstraße.Danke für die schönen Stunden spektakulärer Normalität.